
Evidenzbasierte Entscheidungen in der Rehabilitation – Herausforderung oder Illusion am Beispiel der Rehabilitation Pflegebedürftiger?
… mit diesem Symposium griffen das Kompetenz-Centrum Geriatrie (KCG) und der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) am 9.3.18 in Graz die Zielsetzung der 19. Jahrestagung des Dt. Netzwerks für Evidenzbasierte Medizin auf: Bewusst sollte der Blick dorthin gerichtet werden, wo die Evidenzlage für eine sichere individuelle Entscheidung häufig dünn ist, also Unsicherheit besteht, und doch täglich praktische therapeutische Entscheidungen getroffen werden müssen. Sozialmedizinsicher Hintergrund waren qualifizierte Empfehlungen für oder gegen eine Rehabilitation, wie sie vom Medizinischen Dienst im Rahmen jeder Pflegebegutachtung zu erstellen sind. Ob und wieweit EbM unter den Bedingungen individualisierter Teilhabeziele, komplexer Interventionen und zahlreicher effektmodifizierender Kontextfaktoren, die diesen Versorgungssektor kennzeichnen, solche Empfehlungen absichern kann, diskutierten Prof. J. Behrens (Therapie- und Pflegewissenschaften, Uni Halle-Wittenberg), Prof. A. Gerhardus (Versorgungsforschung, Uni Bremen), Dr. N. Lübke (Leiter des KCG, Hamburg) und Prof. J. Windeler (Leiter des IQWiG, Köln) unter Moderation von S. Gronemeyer (Leitender Arzt des MDS, Essen) mit den Teilnehmern.
Einleitend fasste Dr. Lübke die wesentlichen Erkenntnisse aus einem explorativen Gutachten des KCG zur Evidenz für die Wirksamkeit rehabilitativer Maßnahmen bei alten und pflegebedürftigen Menschen zusammen. Er konstatierte auch für diese vulnerable Zielgruppe eine über alle gefundenen systematischen Reviews (SR) hinweg insgesamt vorliegende generelle Evidenz für die positive Wirksamkeit komplexer wie einzelner rehabiliativer Maßnahmen. Bei überwiegend kleinen bis mittleren Effektstärken sowie fehlenden Hinweisen auf relevante unerwünschte Effekte gelte dies sowohl krankheitsübergreifend als auch bei einzelnen im Alter besonders häufigen Krankheitsbildern wie bspw. Hüftfrakturen und Schlaganfall bezogen auf Endpunkte wie Mortalität, Heimaufnahmerate, Pflegeabhängigkeit und funktionales Outcome. Charakteristisch sei allerdings die erhebliche klinische Heterogenität der den SR zugrundeliegenden Studien, die nur wenige Metaanalysen und kaum Ergebnisse zur Wirksamkeit besonderer Ausgestaltung rehabilitativer Maßnahmen und zur Wirksamkeit in besonderen Kontexten zuließen. Ferner fehlten qualitativ hochwertige Studien aus dem Deutschen Versorgungskontext nahezu vollständig. Anhand exemplarischer Beispiele wurde die Herausforderung dargelegt, die sich hieraus für die Übertragbarkeit dieser generellen Evidenz auf die Entscheidung im gutachterlichen Einzelfall ergibt.
Hieran knüpfte der Beitrag von Prof. Behrens an. Er führte aus, dass externe Studienevidenz stets nur im Rahmen des Aufbaus interner Evidenz für eine konkrete Entscheidungskonstellation nutzbar wird. Interne Evidenz umfasse hierbei aber mehr als das gegebenenfalls noch so umfangreiche Erfahrungswissen des Therapeuten. Sie stelle vielmehr das Ergebnis eines gemeinsamen Prozesses zusammen mit der hilfesuchenden Person über deren Teilhabeziele und Wahrnehmungen, Kontexte und Ressourcen, dar. Dieser Prozess setzte somit Wissen voraus, das nur von der durch die Entscheidung betroffenen Person stammen könne. Die genannten Aspekte müssten dabei für beide Seiten oft erst in einem gemeinsamen Dialog entwickelt und geklärt werden. Dies sei für entsprechende Indikationsstellungen eine grundsätzlich unumgängliche, aber auch erlernbare Aufgabe. Am Bespiel einer laufenden multizentrischen Studie über Mobile Geriatrische Rehabilitation in stationären Pflegeeinrichtungen führt Prof. Behrens aus, dass ein solcher interner Evidenzfindungsprozess über Teilhabeziele selbst mit kognitiv beeinträchtigten Menschen möglich sei. Dennoch seien mehr Studien zum Aufbau externer Evidenz bei multimorbiden Personen mit dem Endpunkt "selbstbestimmter Teilhabe" wünschenswert.
Prof. Windeler sprach sich in seinem Beitrag für mehr „pragmatische" Studien mit Erweiterungen der oft eng begrenzten Ein- und Ausschlusskriterien im Hinblick auf Multimorbidität und Polypharmazie, exakterer Beschreibung einzelner Interventionskomponenten und der vergleichenden Untersuchung verschiedener Versorgungsalgorithmen aus. Darüber hinaus sollten funktionale Zielparameter sowie Aspekte der Partizipation und Lebensqualität als Outcomes stärkere Berücksichtigung finden und Subgruppenanalysen zur Identifikation relevanter Effektmoderatoren intensiver genutzt werden. Nichtsdestoweniger hielt er am hohen Wert interner Studienvalidität fest, die erst die Grundlage biete über Fragen der Übertragbarkeit sinnvoll nachzudenken. Während die interne Validität das zentrale Studienqualitätskriterium darstelle, sei die externe Validität im Sinne der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf eine konkrete Fallkonstellation ein Situationskriterium. „Wenige Leuchttürme können zur Orientierung auf dem Meer ausreichen, allenfalls wo es besonders dunkel ist, muss man einen zusätzlichen errichten", so Prof. Windeler. Vor diesem Hintergrund hob er auch die Ergebnisse der vorgestellten Analyse von SR hervor, gerade angesichts vielfältiger Interventionskomponenten, einer nur vage abgrenzbaren Zielgruppe und einer nicht geringen Zahl weiter anzunehmender kontextlicher Effektmodifikatoren. Im Hinblick auf diese Rahmenbedingungen der Fragestellung könne man sich aus Forschungsperspektive über die klinische Heterogenität der zugrunde liegenden Studien nur freuen.
Eine Vorgehensweise, komplexe Evidenz leichter auf einen komplexen Einzelfall zu übertragen, stellte Prof. Gerhardus anhand eines entsprechenden Frameworks, entstanden im EU-Förderprojekt INTGRATE-HTA vor. Ausgehend von dem Ansatz, dass sowohl Studien als auch konkrete Entscheidungskonstellationen nie die gesamte Wirklichkeit, sondern stets „Modelle von …" einer vielschichtigen Realität darstellen, versucht dieses Konzept durch prototypische Clusterungen der Zielgruppe, der Interventionsbestandteile sowie weiterer Effektmodifikatoren, aus der Fülle theoretisch möglicher Szenarien, wesentliche Szenarien herauszufiltern und dann gezielt die Evidenz hierfür zu bestimmen. Diese Szenarienentwicklung erfolgt unter größtmöglicher Beteiligung verschieden involvierter Akteure (von betroffenen Patienten über bspw. Pflegegutachter bis zu politischen Entscheidungsträgern). Das Ziel besteht dabei zunächst in einer Reduktion der Komplexität auf möglichst relevante Zielgruppen, Interaktionskomponenten und sonstige Modifikatoren. Der Abgleich für diese Szenarien gefundener Evidenz erlaubt gewichtete Bewertungen jeweiliger Schnittmengen dieser Szenarien, die Prüfung des Einzelfalls auf Übereinstimmung mit den untersuchten Modellen unterstützt die Bewertung der Übertragbarkeit komplexer Evidenz auf den komplexen Einzelfall.
Nachfolgend finden Sie die Impulsvorträge der Referenten und weitergehende Literaturhinweise.
Impulsvorträge der Referenten
Weiterführende Literatur
Lübke N. Explorative Analyse vorliegender Evidenz zu Wirksamkeit und Nutzen von rehabilitativen Maßnahmen bei Pflegebedürftigen im Hinblick auf eine mögliche Anwendbarkeit im Rahmen der Feststellung des Rehabilitationsbedarfs bei der Pflegebegutachtung. Grundsatzgutachten im Auftrag des MDS. Hamburg, Essen 2015.
https://kcgeriatrie.de/Info-Service_Geriatrie/Documents/2015-Gutachten%202659-2015-kcg-Endfassung_151105.pdf
Behrens J. EBm ist die aktuelle Selbstreflexion der individualisierten Medizin als Handlungswissenschaft. ZEFQ 104 (2010) 617-624.
Behrens J. „Natürlichkeit“ und „Generalisierbarkeit“ sozialwissenschaftlicher Feldexperimente. Verallgemeinerungen zu externer und interner Evidenz. In Keuschnigg M, Wolbring T (Hrsg.). Experimente in den Sozialwissenschaften. Soziale Welt. Sonderband 22. Baden-Baden: Nomos, 2015. 246-276.
Windler J. Externe Validität. ZEFQ, 102 (2008) 253–260.
Gerhardus A on behalf of the INTEGRATE-HTA project team. Integrated health technology assessment for evaluating complex technologies (INTEGRATE-HTA): An introduction to the guidances (2016).
http://www.integrate-hta.eu/downloads