Die teststatistischen Grenzen eines Instrumentes mĂĽssen berĂĽcksichtigt werden.
Zahlreiche Assessmentinstrumente setzten sich aus qualitativen Items mit qualitativen Abstufungen zusammen, denen durch das Instrumentenmanual sekundär Zahlenwerte zugeordnet werden (Bsp. Barthel-Index, FIM, IADL, PGBA etc.). Die erreichten „Zahlenwerte“ der Einzelitems werden addiert und der Summenscore als Testergebnis ausgegeben. Diese Scores werden dann interpretiert und statistisch weiter ausgewertet. Hierbei wird oft übersehen, dass es sich nicht um echte Intervallskalen handelt, bei denen die Abstände auf der Messskala immer exakt gleich sind (etwa wie der Abstand zwischen 103 cm und 104 cm gleich dem Abstand zwischen 479 cm und 480 ist). Es handelt sich vielmehr um so genannte Ordinalskalen, bei denen sich die Ergebnisse zwar in eine Rangfolge einordnen lassen, die Abstände dazwischen aber nicht wirklich „gleich“ sind, sondern Definitionsvorgaben entsprechen (15 Punkte im Item „Gehen“ des BI bestätigen zwar bessere Gehfähigkeit als 10 Punkte und 5 eine bessere als 0 Punkte, ein Patient mit 10 Punkten geht aber nicht „doppelt so gut“ wie ein Patient mit 5 Punkten). Selbst der Abstand zwischen „gleichen“ Messwerten muss weder innerhalb desselben noch zwischen verschiedenen Items zwangsläufig gleich sein:
​Zwischen 0 zu 5 Punkten im Item „sich Waschen“ des BI kann der Abstand zwischen kompletter Unfähigkeit irgendetwas hierzu selbst beitragen zu können (wie z.B. beim bewusstlosen Patienten) und der uneingeschränkten Fähigkeit sich komplett selbständig zu waschen liegen. Es kann aber zwischen 0 und 5 Punkten möglicherweise auch nur der Unterschied zwischen geringem Resthilfebedarf beim Kämmen und sich schließlich (z.B. mit einer Griffverlängerung des Kammes) doch alleine kämmen zu können, liegen. Beim Item „Aufsetzen und Umsetzen“ ist die Spanne zwischen kompletter Immobilität und kompletter Selbständigkeit auf 4 Abstufungen unterteilt, somit sind hierbei 5 Punkte schon mit „erheblicher“ Fremdhilfe erreicht und damit eine Abstandsspanne, wie sie beim Item „sich Waschen“ aufgezeigt wurde, nicht gegeben. |
Bei solchen ordinal skalierten Instrumenten kann aus dem Summenscore nur sehr begrenzt auf den tatsächlichen Zustand eines bestimmten Patienten geschlossen werden (es sei denn, er hat die volle Punktzahl oder gar keine Punkte):
​Eine Patientin, die 1,60 m groß ist, ist exakt so groß wie eine andere Patientin, die ebenfalls 1,60 m misst. Ein Patient mit einem Barthel-Index von 60 Punkten kann sich von einem anderen Patienten mit ebenfalls 60 Punkten aber erheblich unterscheiden: Patient A hat eine die Polyarthrose, ist jedoch in seiner Mobilität noch weitgehend unbeeinträchtigt. Gravierender ist eine fortgeschrittene Demenz, die mit einer Stuhl- und Harninkontinenz einhergeht. Daher ist er mit einem Dauerkatheter versorgt. Wenngleich er viele Aktivitäten noch ausführt, besteht für die richtige und sichere Durchführung meistens doch Aufsichts- oder Unterstützungsbedarf. Patient B hat einen Schlaganfall mit inkompletter beinbetonter Halbseitenlähmung rechts erlitten. Sein Hauptproblem ist die Mobilität. Während beim Transfer mittlerweile die Hilfestellung seiner Ehefrau ausreicht, ist ein Treppensteigen noch nicht möglich und auch das Gehen ist noch auf kürzere Strecken mit personeller Hilfe begrenzt. Da er neuropsychologisch nicht beeinträchtigt ist, kann er viele Aktivitäten durch Kompensation über seine linke Seite ausgleichen, zumal sein rechter Arm nur noch feinmotorische Beeinträchtigungen aufweist. |
Hieraus könnte sich folgende Bewertung in den 10 Items des Barthel-Index ergeben:
Item | ​Patient A | ​Patient B |
​​Essen | ​5 | ​10 |
​Aufsetzen & Umsetzen | ​15 | ​10 |
​Sich Waschen | ​0 | 5​ |
​Toilettenbenutzung | ​5 | 5​ |
​Baden / Duschen | ​0 | ​0 |
​Aufstehen & Gehen | ​15 | ​5 |
​Treppensteigen | ​10 | ​0 |
​An- & Auskleiden | ​5 | ​5 |
​​Stuhlkontinenz | ​0 | ​10 |
​Harnkontinenz | ​5 | ​10 |
Summe | ​60 | ​60 |
Es wird deutlich, dass sich trotz „gleichen“ Summenwertes im Barthel-Index ein sehr unterschiedlicher Hilfebedarf, eine unterschiedliche Akuität des Geschehens, eine unterschiedlich zu bewertende Rehabilitationsindikation und eine unterschiedliche Prognose im Einzelfall vorliegen kann. Der Summenwert alleine also wenig zur einer sinnvollen Allokationsentscheidung beiträgt.
Nicht ohne Grund haben bereits Barthel und Mahoney die Relevanz des Summenscores für ihren BI sehr eingeschränkt und darauf verwiesen, dass nur die Einzelitems die Defizite tatsächlich deutlich machen. Sinngemäß gleiches gilt für den FIM und andere ordinal skalierte Instrumente.
Von besonderer Relevanz ist dieser Umstand, wenn Assessmentinstrumente zur Leistungsbeurteilung oder Qualitätssicherung herangezogen werden:
​Eine nach einer Schenkelhalsfraktur bereits auf Stationsebene ohne Hilfsmittel gehfähige ältere Patientin lernt in der Rehabilitation weitere Strecken auch im Freien zu bewältigen, wie es für ihre Einkäufe erforderlich ist, und das selbständige Steigen von Treppen, das vorher noch der Hilfe bedurfte. Unter der zunehmenden körperlichen Belastung muss die vorbestehende herzinsuffizienzbedingte Therapie mit Diuretika wieder aufgenommen werden, was zu gelegentlichen „Malheuren“ führt. Trotz deutlicher Mobilisationsfortschritte bleibt der Barthel-Index unverändert, da nur im Item Treppensteigen 5 Punkte hinzukommen, dafür die gelegentliche Inkontinenz das Ergebnis um 5 Punkte mindert. Der Zugewinn im Gehen fällt dem Deckeneffekt des BI zum Opfer. |
Die Chancen Verbesserungen im Rahmen rehabilitativ-therapeutischer Maßnahmen zu erzielen sind bei ordinal skalierten Instrumenten über die Skalenspanne auch nicht gleichmäßig verteilt:
​Beim Bahrtel-Index wird es bspw. nach Überschreiten des Bodeneffektes und Erreichen erster Punktzahlen im unteren Bereich im mittleren Punktzahlbereich deutlich leichter Zugewinne zu erzielen. Am oberen Ende der Skala, wo es wirklich um die absolute Selbständigkeit auch in den verbliebenen Schädigungs- und Beeinträchtigungsbereichen geht (typischerweise betrifft dies z.B. das Item „Baden/Duschen“), wird es wieder schwieriger einen Punktanstieg zu realisieren1. Dies ist auch im Benchmarking von Kliniken zu berücksichtigen. In Abhängigkeit vom mittleren Summenwert des Barthel-Index bei Aufnahme einer Einrichtung, können sich durchaus unterschiedliche durchschnittliche Zugewinne ergeben, ohne dass dadurch zwangsläufig negative oder positive Bewertungen hinsichtlich der Intensität oder der Qualität der Maßnahmen möglich wären. |
Noch komplexer wird es, wenn man berücksichtigt, dass die Zugewinnschance auch noch vom jeweiligen zugrunde liegenden Krankheitsbild abhängig ist:
​Defizite im Item „Gehen“ (initial 0 Punkte) dürften durchschnittlich bei einem Patienten mit einer Endoprothese (z.B. TEP) nach einer Schenkelhalsfraktur mit größerer Chance auf 15 Punkte (selbständiges Gehen über 50m) zu rehabilitieren sein als bei einem Schlaganfallpatienten mit einer kompletten Halbseitenlähmung2. Sollte der Patient mit der Schenkelhalsfraktur aber - was sicher eher selten ist - Defizite im Item „Essen“ aufweisen, könnte es umgekehrt sein: Da hier (abgesehen von Komplikationen mit Bewusstseinsstörungen) kein Zusammenhang mit der Grunderkrankung der Schenkelhalsfraktur erkennbar ist, müsste hier eine anderweitige, länger vorbestehende Störung vermutet werden, deren Rehabilitationspotenzial dann eher geringer sein dürfte als das eines Patienten, der eine Schluckstörung im Rahmen eines frischen Schlaganfalls erlitten hat. |
Auch die Zusammensetzung des Patientenguts einer Klinik kann daher zu unterschiedlichen Ergebnissen bspw. der mittleren Zuwächse im Barthel-Index beitragen.
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1 Diese Effekte lassen sich mit aufwendigen mathematischen Verfahren auch exakt berechnen. Nähere Ausführungen und Quellen hierzu finden sich bei Lübke N, Meinck M, von Renteln-Kruse W. Der Barthel-Index in der Geriatrie. Eine Kontextanalyse zum Hamburger Einstufungsmanual. Z Gerontol Geriatr 2004;37:316-326.
2 Auch diese „Diagnoseabhängigkeit“ des BI bzgl. seiner Veränderungssensitivität konnte in Untersuchungen belegt werden (vgl. ebenfalls Lübke, Meinck, von Renteln-Kruse 2004).